Digitalisierung im Vertrieb – Ideen von der Front erwünscht (Artikel)

Magazin für Ideen- und Innovationsmanagement 02.18 (Autorin: Yasmin Schütte)

Vertrieb hat sich verändert: In Vertriebstrainings fällt immer öfter auf, dass die Teilnehmer zunehmend Probleme an der Kundenfront haben und spürbare Reibungspunkte zur Vertriebsleitung spürbar werden. Denn eines wird immer deutlicher: Kaltakquise, Argumentationstechniken und Vertriebskennzahlen wollen nicht mehr so richtig funktionieren. Je weniger die klassischen Vertriebsschemata anwendbar sind, desto höher ist gleichzeitig die Nachfrage an Vertriebstrainings. Doch die Erhöhung des Vertriebsdrucks im Direktkontakt mit dem Kunden führt eher zum Gegenteil und der Kunde zieht sich zurück.

Der Grund: Das Internet hat den Kunden mündig gemacht und demokratisiert heute fast jeden Markt. Der Trend der „Informations-Selbstbedienung“ nimmt dem Vertrieb immer mehr Möglichkeiten der Einwirkung auf den Kunden und der Steuerung seines Kaufverhaltens. Kunden wollen so lange wie möglich online (also anonym) Informationen sammeln und sich offline nur noch von Ihrer Vorauswahl überzeugen. Der Vertrieb hat somit das Gefühl von Kontrollverlust und verhält sich intuitiv falsch: Man versucht mit noch mehr Druck an den Kunden zu kommen. Doch nur mit einer gewissen Schubumkehr kommt man dem Kunden näher: Weniger Outbound Marketing und mehr Inbound Marketing Maßnahmen, weniger PUSH und mehr PULL lautet die Devise. Für Unternehmen bedeutet das große Herausforderungen in der Umstellung ihrer Marketing- und Vertriebstätigkeiten. Sie müssen sich z. T. von Vertriebsprozessen, Softwarestrukturen und Kennzahlen verabschieden und ihren Vertrieb neu denken.

Level 1: Parallelbefragung von Mitarbeitern und Kunden

In dieser Situation empfiehlt es sich, das Wissen und die Erfahrungen der Mitarbeiter an der Vertriebsfront zu nutzen und gemeinsam Ideen zu entwickeln, die im jeweiligen Geschäftsmodell der Organisation unter dem Begriff Customer Relations anzusiedeln sind. Das hat mehrere Vorteile:

  1. Vertriebsmitarbeiter kennen ihre Kunden und ihren Markt besser, als die Geschäftsleitung
  2. Für die weitere Umsetzung brauche ich die Vertriebsmitarbeiter mit im Boot, so dass eine Einbindung ihrer Ideen zu höherer Akzeptanz bei der Einführung neuer Vertriebsprozesse führt
  3. Ein organisches Change-Management aus der eigenen Kernmannschaft heraus ist immer erfolgreicher und nachhaltiger, als ein künstlich herbeigeführter Change Prozess

Im ersten Schritt ist daher eine Befragung der Vertriebsmitarbeiter aufzusetzen, die durch eine Gegenbefragung von Kunden gespiegelt wird. Nur die übereinstimmenden Punkte dienen als valide Diskussionspunkte und werden in einem Arbeitszirkel von Vertriebsrepräsentanten aller Berufsgruppen (Innendienst, Außendienst, Vertriebsleitung etc.) aufgenommen. Der Hintergrund: Vertriebsmitarbeiter neigen dazu gern von sich und mangelndem Fleiß abzulenken, so dass in einem solchen Arbeitszirkel nur Punkte diskutiert werden sollten, die die Kundenfront ebenfalls benennt.

Folgende Themen entlang des Sales-Funnels sollten in der Parallelbefragung (Vertriebsmitarbeiter und Kunden/verlorene Kunden) aufgegriffen und mit wissenschaftlich auswertbaren Methoden zur Befragung aufbereitet werden:

  • Customer Journey: Was sind die häufigsten Kundenkontaktpunkte kaufender Kunden mit dem Unternehmen? Welche Kontaktpunkte fehlten den verlorenen Kunden?
  • Content: Welche Inhalte waren für eine Kontaktaufnahme relevant? Welche Inhalte fehlten den verlorenen Kunden oder waren bei der Konkurrenz interessanter?
  • Call to Action: Welche Kontaktmöglichkeiten werden am meisten genutzt (und warum)? Welche Kontaktmöglichkeiten fehlten den verlorenen Kunden?
  • Conversion: Zu welchem Zeitpunkt im Entscheidungsprozess lässt sich der Kunden auf einen Offline-Kontakt ein? Wieviel des Weges möchte der Kunden online gehen können?
  • Consulting: Wie viel Beratung wünscht sich der Kunde und in welcher Tiefe?
  • Automatisierung: Wie viel Automatisierung akzeptiert der Kunde?
  • Authentizität: Wem (Influenzer, Werbung, Vertriebler, Empfehlung etc.) vertraut der Kunde wirklich?
  • USP’s: Welch einzigartigen Vorteile fördern die Bereitschaft für eine Vorauswahl bei kaufenden Kunden? Welche Vorteile fehlten den verlorenen Kunden?
  • Value Propositions: Wie müssen Produkte oder Services beschaffen sein, um dem Vergleich mit der Konkurrenz standzuhalten?
  • Pricing: Wie Preisempfindlich ist der kaufende Kunde wirklich? Wie Preisempflindlich waren verlorene Kunden?

Level 2: Ideen- und Innovationswettbewerb mit Motto

Im zweiten Schritt sollte sich der Vertrieb regelmäßig mit neuen Technologien für den Vertriebsprozess beschäftigen und über Ideen- und Innovationswettbewerbe im Unternehmen prämiert werden. Hierbei hat es sich bewährt, dass man zu bestimmten Themen oder einem bestimmten Jahresmotto entsprechende Impulse aus der Vertriebsmannschaft fördert. Ein mittelständisches Unternehmen hatte z. B. das Motto „Zeitersparnis“ bei seinem Jahreskickoff ausgerufen und eine E-Mail Adresse „zeitersparnis@…“ eingerichtet, wo jeder seine Idee formlos einreichen konnte. Es wurden u.a. Ideen aus dem Vertriebs prämiert wie:

  • Terminvereinbarung auch optional per Selbstbedienung über ein Online-Tool
  • LED Parkplatzschilder für den Willkommensgruß der Kunden (früher per Papier und händischer Montage am Schild)
  • Kundenberatung per Team Viewer für Kunden, die eine weite Anreise oder ein krankes Kind daheim haben

Interessant wird es nun, wenn die nächste Dimension dazu kommt. Nämlich das Internet of Things (IoT), Künstliche Intelligenz (KI), Chat Bots, Webtrawler & Co. Plötzlich ist eine Maschine der Kunde oder eine Maschine übernimmt den Part des Vertrieblers. Nun ist dies schon lange keine Utopie mehr. Was früher die Uhr war, ist heute die Apple Watch. Was früher Kochtopf und Rezeptbuch waren, sind heute Thermomix mit Rezept-Software. Was früher Flugticket und Check-In waren, sind heute die vollautomatisierte Reisebegleitung auf dem Mobile Device. Viele Kunden sind teilweise privat schon digitaler als wir alle beruflich und erwarten das auch immer mehr im Vertriebsprozess.

Level 3: High Performance Zirkel

Wie also sieht in Zukunft der Vertrieb 4.0 genau aus? Studien prognostizieren, dass Marketing und Sales zusammenwachsen und vieles im Kundenkontakt automatisiert stattfinden wird (vgl. 2, 3). Es entstehen vor allem auch Berufsbilder, für die es aktuell weder Ausbildung noch Studium gibt. Ohne IT-Skills ist man hier nicht mehr richtig aufgehoben. Gute Verkäufer sind jedoch meist sehr analog unterwegs, weil sie eine persönliche Bindung aufbauen und kreative Lösungen mit dem Kunden erarbeiten. BMW sagt z. B.: „Früher haben wir Autos verkauft. Morgen verkaufen wir Mobilität.“ Kreativ sein und persönliche Bindungen aufbauen – kann das ein Computer? Noch nicht, denn Künstliche Intelligenz hat sich da nicht wesentlich verändert, sie ist nur schneller und komplexer geworden. Interessant sind jedoch sicherlich Technologien wie Chat Bots für Service Dialoge, Webcrawler zur Ermittlung von veröffentlichten Kundedaten und Trigger Events beim Kunden, Virtual Reality für Besichtigungen und Software Lösungen, die die Marketing- und Vertriebs-Anforderungen integriert in einer Lösung abbilden können.

Hier benötige ich als Sales-Organisation regelmäßig Input von außen und ein agiles System zur Prüfung neuer Technologien innerhalb des eigenen Geschäftsmodells. In der Praxis hat es sich bewährt sogenannte High-Performance-Zirkel aus Fach- und Führungskräften einzurichten. Das müssen Menschen sein, die Lust haben, sich regelmäßig mit neuen Technologien auseinanderzusetzen, die keine Angst davor haben oder denken, dass Technologie sie wegrationalisieren könnte. In einem solchen High-Performance-Zirkel gibt es zusätzlich zum normalen Tagesgeschäft Aufgaben wie z. B. Messebesuche, Suche nach Anbietern neuer Technologien und Fachdialoge, Mastermind oder Peer Gruppen mit Kollegen anderer Unternehmen, Recherche- und Literaturarbeit und Zusammenarbeit mit Hochschulen. In einem solchen High-Performance-Zirkel wird dann regelmäßig und systematisch Neues diskutiert und in einer Prioritätenliste zur Erprobung und Bewertung eingeordnet. Hier wird ähnlich dem Scrum-Prinzip gearbeitet und Technologie-Projekte mit einer potenziellen Eignung im laufenden Betrieb live ausprobiert. Anhand eines einfachen Systems wird das Technologie-Projekt durch den High-Performance-Zirkel selbst bewertet und weiter ausgearbeitet. Bei Eignung zur Einführung wird die neue Technologie inklusive Impaktstudie, Investitionsrechnung und Businessplan der Unternehmensführung zur Entscheidung vorgelegt.

Bleibt die Frage, was tue ich ab morgen?

Fakt ist: Der Kunde ist hybrid – egal in welcher Altersklasse. Daher muss ich darauf vorbereitet sein, Customer Journeys online und offline abzubilden. Fakt ist auch: Je digitaler ich werde, desto schärfer, strukturierter und klarer kommunizieerbar müssen meine USP’s und mein Geschäftsmodell sein. Das muss ich als Organisation akzeptieren und mich dann systematisch und agil auf die Reise machen – Fehlerkultur inklusive!

Literatur:

[1] Binckebanck L., Elste R. (2016), Digitalisierung im Vertrieb: Strategien zum Einsatz neuer Technologien in Vertriebsorganisationen, Springer Gabler, Wiesbaden
[2] U. Hannig, K. Heinzelbecker, T. Foell (2017); Studie „Marketing und Sales Automation in Deutschland“, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
[3] M. An, J. Oetting, Studie „State of Inbound 2017“, Hubspot

Die Autorin

Yasmin Schütte ist Gründerin der IMPAKT GmbH – eine Mittelstandberatung für Wachstum, Vertrieb und Digitalisierung. Sie berät Unternehmen sowohl bei der strategischen Planung, als auch bei der Umsetzung von Expansions- und Skalierungsprojekten. Typische Projekte sind hier meistens die Erschließung neuer Märkte, Digitalisierung von Vertriebsprozessen, Skalierung durch Lizenzpartnerschaften oder die Etablierung neuer Geschäftsmodelle.